Der Rohstoffmangel, die steigenden Energiepreise, die hohe Inflation – die deutsche Wirtschaft hat gerade mit einigen Widrigkeiten zu kämpfen. Christiane von Berg ist Volkswirtin beim Kreditversicherer Coface und erläutert im GFL-Interview, welche Auswirkungen das auf die Wirtschaftsleistung und das Insolvenzgeschehen haben wird.

GFL: Die deutsche Industrie ist größtenteils glimpflich durch die Corona-Krise gekommen. Jetzt scheint es, dass sie jedoch die Rohstoffknappheit mit voller Wucht trifft. Wie kritisch ist die Situation?

von Berg: Die Konjunktur ist theoretisch in einem Aufschwung, den wir sehr lange nicht mehr gesehen haben. Ich würde sagen, dass die COVID-Rezession uns in der Industrie neuen Schwung gegeben hat – der teilweise auch unabhängig von der Pandemie ist. Denn die deutsche Industrie war bereits seit September 2018 in einer Rezession, also weit bevor Covid-19 überhaupt aufgetreten ist. Erst im Sommer 2020 ist sie wieder zu ihrer richtigen Stärke gekommen. Dieser Schwung ist durch die hohe Nachfrage wirklich sehr stark und wird jetzt abgebremst durch den Rohstoffmangel. Kritisch wird es aber erst dann, wenn der Aufschwung komplett abgewürgt wird. Also wenn die Leute so lange nachfragen und nichts bekommen, bis sie irgendwann nicht mehr nachfragen. Das sehe ich momentan aber noch nicht.

GFL: Können Sie schon abschätzen, wie sich die Rohstoffkrise auf die Wirtschaftsleistung auswirken wird?

von Berg: Ich sehe diese Schwäche relativ kurzfristig: Die Knappheit sollte sich aus heutiger Sicht im dritten Quartal 2022, spätestens im vierten, auflösen. Das wird dazu führen, dass die Wirtschaftsleistung im kommenden Jahr wieder stärker wird – vieles von der Nachfrage, die 2021 eigentlich hätte da sein sollen, wird ins nächste Jahr gepackt.

GFL: Trotzdem warnen einige Branchenvertreter davor, dass die Rohstoffknappheit den gesamten Wirtschaftsstandort Deutschland gefährden könnte …

von Berg: Von einzelnen Branchen wird die Situation natürlich äußerst kritisch wahrgenommen. Aber Fakt ist, dass wir gerade eine globale Konjunkturerholung erleben, wie wir sie das letzte Mal beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg in den 40/50er Jahren gesehen haben. Dazwischen gab es nie so eine Krise, wie wir sie jetzt erfahren haben: Die Finanzmarktkrise hat zwar zum Beispiel in Deutschland eine wesentlich stärkere Rezession ausgelöst als die Pandemie, aber das galt eben nicht für die gesamte Welt. Viele hochentwickelte Länder waren betroffen, aber die meisten Länder Afrikas haben die Krise damals beispielsweise kaum gespürt.

Jetzt ist die Situation eine ganz andere: Die Pandemie ist wirklich überall und alle kommen langsam in eine Konjunkturerholung durch den großen Nachfrageschub. Das Angebot und die Lieferketten brauchen jedoch Zeit, um sich anzupassen. Wir hatten diesen Sommer mehrmals die Situation, dass große Lieferhäfen wochenlang geschlossen waren. Dass so etwas wieder passiert, lässt sich nicht ausschließen. Dann hatten wir den „Quereinparker“ im Suezkanal und in Hamburg sind Containerschiffe bei der Einmündung zur Elbe vor Anker gegangen, weil man beim Entladen nicht mehr hinterhergekommen ist. Das heißt, diese Lieferkettenprobleme ziehen sich noch ziemlich lange durch das gesamte System. Es wird also noch dauern, bis das Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage aufgelöst ist. In der Zwischenzeit dürfte der Wirtschaftsstandort Deutschland nicht vor die Hunde gehen, wie das von einigen Leuten propagiert wird. Selbst wenn man sagen würde, Deutschland sei als Wirtschaftsstandort nicht mehr attraktiv, frage ich mich: Wo wollen die Unternehmen denn hin? Andere Länder haben genau die gleichen Probleme.

GFL: Werden wir auch in den nächsten Jahren solche Probleme sehen?

von Berg: Wahrscheinlich! Denn zu der Rohstoffknappheit hat nicht nur geführt, dass die Nachfrage so stark zugenommen oder dass der Transportweg Probleme bereitet hat, sondern auch die Produktion der Rohstoffe selbst. Das Angebot wir immer mehr durch klimatische Veränderungen und Umweltkatastrophen geschwächt. So gab es dieses Jahr eine Überflutung in Brasilien, es gab Brände und Dürren. Die führen nicht nur dazu, dass wir im Agrarsektor Probleme bekommen, sondern auch dazu, dass manche Mineralien nicht mehr so einfach abgebaut werden können.

Ein anderer Punkt ist, dass China nicht mehr so produziert, wie man es gewohnt war. In ihrem Fünf-Jahres-Plan hat die Regierung erstmals den Klimaschutz aufgenommen, was unter anderem dazu führt, dass man sich jetzt die Minen genauer ansieht. Leider weniger in Bezug auf Menschenrechte, sondern nur im Hinblick auf die Klimaauswirkungen. Das führt dazu, dass manche Minen geschlossen werden oder nicht mehr so viel produzieren dürfen. Das sind Entwicklungen, die man dauerhaft im Auge behalten muss.

GFL: 2020 gab es so wenige Insolvenzen wie seit 1993 nicht mehr. Wie sieht das Insolvenzgeschehen in diesem Jahr aus? Wird die große Pleitewelle noch kommen?

von Berg: Die derzeit aktuellsten Zahlen zeigen, dass es von Januar bis August bisher 17 Prozent weniger Insolvenzfälle gibt. Die Sache ist nur die: Die Zahl der Insolvenzen stellt nicht den Schaden für die Wirtschaft dar. Wir müssen bedenken, dass ein Großteil der Insolvenzen ganz kleinen Unternehmen passiert. Das ist für die Betroffenen natürlich tragisch, aber für die Gesamtwirtschaft ist das vernachlässigbar. Viel aussagekräftiger ist daher, wie hoch die erwarteten Forderungen aus den Insolvenzen sind. Da ist es so, dass es 2009 den höchsten Wert mit 73,1 Milliarden Euro gab. Den zweihöchsten Wert mit 44,1 Milliarden Euro gab es 2020 – zu einer Zeit, als es ja kaum Insolvenzen gab. Bis August lagen wir in Deutschland dieses Jahr bei 44,4 Mrd. Euro und somit bereits über dem Wert, der für das Gesamtjahr 2020 zu Buche stand. Das bedeutet: Das Jahr 2021 wird das „teuerste“ Jahr seit 2009 werden. Deswegen stimmt es nicht, dass es keine Insolvenzwelle gibt – wir sind schon mittendrin.

GFL: Wie werden sich die Insolvenzen im kommenden Jahr entwickeln?

von Berg: Ich könnte mir vorstellen, dass 2022 auch die Zahl der Insolvenzen wieder anziehen wird, weil die Stützungsmaßnahmen der Bundesregierung Ende des Jahres wegfallen. Dann sehen wir, wer am Ende diese Krise gemeistert hat und wer nicht. Anders gesagt: Wer kann auch ohne Rettungsweste schwimmen? Das werden wird wahrscheinlich im zweiten Quartal 2022 sehen.

GFL: Könnte ein Risiko in Deutschland auch eine sehr engagierte Klimapolitik der künftigen Bundesregierung darstellen? Oder sehen Sie darin eher eine Chance für die Wirtschaft?

von Berg: Ich würde sagen, kurzfristig ist die Klimapolitik ein Risiko, mittel- und langfristig hingegen eine Chance. Durch den Ausstieg aus der Kernenergie und den langsamen Ausstieg aus der Braunkohleindustrie sehen wir, dass unsere Strompreise extrem gestiegen sind. Und gleichzeitig sind die bürokratischen Hürden sehr hoch, wenn man Erneuerbare Energien installieren will. Das führt dazu, dass unser Strompreis weltweit zu den höchsten zählen. Ist das ein Problem für uns? Klar, die hohen Strompreise sind ein Standortnachteil, wenn wir auf Technologien gehen, die stromintensiv sind.

Aber was wir auch sehen: Wenn wir in einer Notsituation sind, können wir in Deutschland doch ziemlich schnell umstellen und durch technologischen Fortschritt Antworten finden. Meiner Meinung nach ist es deshalb nicht schlimm, ambitionierte Ziele zu setzen. Man muss nur bedenken, dass das am Anfang durchaus schmerzvoll ist. Aber ich sehe tatsächlich sehr viel Potenzial in Deutschland.

GFL: Das sehen nicht viele. Gemeinhin heißt es eher, Deutschland hinke bei der Energiewende – ebenso wie in der Digitalisierung – meilenweit hinterher.

von Berg: Ich glaube, das hängt auch mit unserer Mentalität zusammen. In Deutschland vergleichen wir uns immer mit den allerbesten. Das ist eine Sache, die man im Ausland nicht verstehen kann: Wir sind relativ weit, aber wir sind nie zufrieden. Denn ja, wir sind nicht so gut wie Skandinavien, aber wir sind besser als manch andere. In Skandinavien haben die meisten Länder eine Bevölkerung von rund fünf Millionen Menschen – hier ist es wesentlich einfacher, Neuerungen umzusetzen als in einem Land mit 83 Millionen Menschen. Doch vielleicht ist es auch ein Standortvorteil, dass wir immer höher, besser, weiter sein wollen.

GFL: Ein weiterer Risikofaktor für die deutsche Wirtschaft könnte die hohe Inflation sein. Wie schätzen Sie diese Gefahr ein?

von Berg: Das hängt davon ab, wie lange die Situation noch andauert. Momentan ist noch einigermaßen deutlich, was dahintersteckt – nämlich die hohen Rohstoff-, Import- und Energiepreise, die sich direkt in der Inflationsrate widerspiegeln. Zudem wird sie durch einzelne Effekte wie die Mehrwertsteuersenkung im letzten Jahr, die nun wieder auf das normale Niveau angehoben wurde, gepusht. Auch die Erhöhung der CO2-Steuer spielt mit rein. Das ist aber alles noch händelbar.

Problematisch wird es erst dann, wenn durch die hohe Preisentwicklung die Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen höhere Löhne fordern – was ja verständlich ist. Doch durch ein höheres Lohnniveau bei gleichbleibender Nachfrage und gleichbleibendem Angebot setzt sich die Preisspirale fort und irgendwann sinkt die Nachfrage dann. Das wird die Wirtschaft zurückfahren. Deshalb dürfen wir an diesen Punkt nicht kommen. Momentan ist es aber noch so, dass trotz der hohen Preise die Nachfrage hoch und stabil ist.

GFL: Die Inflation zieht nicht nur in Deutschland, sondern weltweit an. Was bedeutet das für hiesige Unternehmen?

von Berg: Wenn wir ausländische Produkte einführen und Dienstleistungen in Anspruch nehmen, dann haben die Unternehmen natürlich auch höhere Importkosten. Man spricht dann auch von importierter Inflation und das ist mit ein Grund dafür, warum wir momentan fast überall auf der Welt eine hohe Preissteigerung haben. Weltweit sehen wir deshalb, dass die Zentralbanken ihre ultraexpansive Geldpolitik etwas zurücknehmen.

GFL: Für welche Branchen bzw. Sektoren wird 2022 ein besonders gutes Jahr?

von Berg: Wir gehen davon aus, dass die erste Jahreshälfte noch von der Rohstoffknappheit geprägt wird, in der zweiten wird es dann eine stärkere Entwicklung geben. Davon profitieren vor allem die Industrieunternehmen, die dann ihre Inputfaktoren wieder zeitnah bekommen. Automotive sollte sich dann besonders stark erholen, weil diese Branche dieses Jahr sehr belastet war, ebenso wie die Textilbranche. Was interessant werden wird, ist die Lage für kleine Dienstleistungs- und Einzelhandelsunternehmen, das Gastgewerbe und Hotels. Dann wird sich zeigen, ob sie durch die Krise gekommen sind oder nicht.