Die lange Reaktionszeit in Bezug auf Corona-Maßnahmen in Großbritannien macht sich nun bemerkbar. Die Bank of England rechnet mit der schwersten Rezession seit über 300 Jahren.

Mithilfe verschiedenster Mittel in Form staatlicher Eingriffe versucht Finanzminister Rishi Sunak die zusammenbrechende Wirtschaft Großbritanniens zu unterstützen. Diese Unterstützungsmaßnahmen mit Multi-Milliarden-Paketen sind mehr als erforderlich: Großbritannien steht kurz vor einem „epochalen Wirtschaftsabsturz“. Das Statistikamt ONS verkündet einen Einbruch der Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal von 20,4%. Demzufolge sind die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sogar größer als in Spanien oder Italien.

Wirtschaftsforscher führen die gravierenden negativen Effekte auf die anfänglich unentschlossene Haltung der Regierung zurück, die zunächst auf stärkere Schutzmaßnahmen verzichtet und stattdessen auf das Konzept Herdenimmunität gesetzt hat. Dies hat sich als riesiger Fehler herausgestellt: Die Anzahl der Toten liegt bei mittlerweile mehr als 41000 und übertrifft damit jedes andere europäische Land.

Nachdem in Deutschland und anderen europäischen Ländern die Maßnahmen etwas gelockert werden konnten, waren in Großbritannien auch Restaurants und Pubs noch bis Anfang Juli geschlossen. Die Dienstleistungsbranche ist dabei fast komplett zusammengebrochen. Gastronomie, Einzelhandel und weitere Service-Anbieter waren gezwungen, ihre Geschäfte rund 3 Monate vollständig zu auszusetzen.

Die Angst vor Arbeitslosigkeit ist groß: viele Briten haben ihre Konsumausgaben drastisch reduziert.

Im Herbst wird ersichtlich sein, wie groß die Auswirkungen der Pandemie auf den britischen Jobmarkt sind. Noch bis Ende Oktober läuft die britische Version der Kurzarbeit. Aktuell übernimmt die Regierung noch den Arbeitgeberanteil der Sozialversicherung und 80% der Monatsgehälter für Angestellte. Durch diese Maßnahme werden derzeit noch rund 9 Millionen Jobs gesichert. Allerdings ist es geplant, die Unterstützung sequenziell zu reduzieren und im November aufzuheben. Die Bank of England schätzt in diesem Falle mit einer Verdopplung der Arbeitslosenquote von 3,9% auf 7,5%. Daraufhin wurde von der britischen Regierung ein ursprünglich ausgelaufenes Modell zur Unterstützung für Selbstständige wieder aufgelegt.

Doch Corona wird nicht das einzige große Problem sein, vor dem die britische Regierung in diesem Jahr steht: Auch der Brexit stellt eine enorme Gefährdung der britischen Wirtschaft dar.

Das Statistikamt OMS hat verkündet, dass allein 730 000 Menschen zwischen März und Ende Juli in die Arbeitslosigkeit gerutscht sind. Besonders betroffen sind hiervon die Luftfahrt- und Autoindustrie: Bei British Airways entfallen 12.000 Jobs, bei Easyjet 4500 und bei Virgin Atlantic sind 3000 Mitarbeiter von den Kündigungsmaßnahmen betroffen. Die britischen Autobauer Jaguar Land Rover, Bentley und Aston Martin sind ebenso gezwungen, aufgrund der schlechten Auftragslage einer Vielzahl an Mitarbeitern zu kündigen. Ebenso die Ölbranche, Finanzdienstleister und Großbanken.

Das Budgetamt OMR schätzt das Haushaltsdefizit in diesem Jahr auf 320 Milliarden Pfund, was umgerechnet rund 354 Milliarden Euro und 16% des Bruttoinlandsproduktes entspricht.

Falls London und Brüssel bis zum Jahreswechsel keine Einigung für einen Freihandelsvertrag zustande bekommen, würde der Brexit Großbritannien mit gravierenden Auswirkungen treffen, da ab diesem Moment an die Regeln der Welthandelsorganisation WTO mitsamt hoher Handelszölle gelten würden, was den Außenhandel und dementsprechend die Wirtschaft weiter beeinträchtigen würde.

Die Verhandlungen haben Anfang dieser Woche erneut begonnen; allerdings ist in Kürze mit keinem Durchbruch zu rechnen.

Die Einschätzung des GFL-Teams:

Großbritannien steht vermehrt unter großem Druck und dieser wird in den kommenden Monaten weiter zunehmen. Noch kann die britische Regierung durch Unterstützungsmaßnahmen viele Unternehmen vor der Insolvenz und ihre Angestellten vor der Arbeitslosigkeit schützen. Wenn die Maßnahmen im November entfallen und der harte Brexit kommt, stehen Großbritannien äußerst düstere Zeiten bevor.

GFL-Experte Marcus Sarafin: „Neben dem Auslaufen der Maßnahmen würde ein harter Brexit sicher noch größere Probleme erzeugen als sie schon vorhanden sind. Ob diese Regierung das so sieht, kann bezweifelt werden (siehe Verhandlungsstrategie UK – EU sowie Maßnahmen gegen COVID-19 bis zur Infektion von Boris Johnson).“

Quelle: Süddeutsche Zeitung, „Warm anziehen“, 18.8.20